Der Ärzte- und Fachkräftemangel ist überall spürbar. Doch nirgends zeigt er sich so deutlich wie auf dem Land. Das Praxissterben und der zunehmende Ärztemangel erschweren es Patienten in ländlichen Regionen, die nötige medizinische Betreuung zu finden. Doch Not macht bekanntlich erfinderisch: Innovative Lösungen zeigen Wege, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Im Interview mit Alexander R. Baasner, Mitbegründer des Projekts „DIHVA" (Digitale Hausärztliche Versorgungsassistenten), diskutieren wir die Rolle digitaler Technologien im Kampf gegen den Ärztemangel und die Entwicklung neuer Versorgungsmodelle für Patienten in ländlichen Gebieten.
Lieber Alex, was sind die Herausforderungen bei der Gesundheitsversorgung in ländlichen Regionen?
Die Hauptproblematik besteht schlicht und ergreifend darin, dass Patienten keinen Arzt in ihrer Nähe finden. Wenn beispielsweise eine Praxis in einer Gemeinde mit 5.000 Einwohnern schließt, müssen die Patienten eine alternative ärztliche Betreuungsmöglichkeit finden. In der Theorie könnten sie sich rundherum auf umliegende Ärzte verteilen – aber deren Praxen sind oft bereits überlastet und können keine zusätzlichen Patienten aufnehmen. Patienten müssen ihren Radius auf der Suche nach einem Hausarzt immer weiter ausdehnen. Das ist natürlich nicht ideal, besonders, wenn die Personen vielleicht schon älter und nicht mehr so mobil sind und dann umständlich mit dem Bus in den Nachbarort fahren müssen. Hinzu kommt der Wegfall der Neupatientenregelung und damit der geringere finanzielle Anreiz für Ärzte, neue Patienten aufzunehmen. Dadurch verschlechtert sich die Situation weiter. Bei Fachärzten ist die Problematik sogar noch gravierender: Der Versuch, einen Kardiologen oder einen Facharzt für Dermatologie auf dem Land zu finden, ist da nahezu aussichtslos.
Was tun Patienten, wenn sie schlichtweg keine Haus- oder Fachärzte in der Nähe ihres Wohnortes finden können?
Nun, wo gehen die Leute hin, die keinen Hausarzt haben, aber Beschwerden und Leidensdruck verspüren? In die Notaufnahmen der umliegenden Krankenhäuser! Dort sitzen dann letzten Endes Personen mit nicht-lebensbedrohlichen Indikationen wie Kopfschmerzen oder einer Erkältung und warten stundenlang, bis sie einen Arzt sehen können – denn abweisen darf man sie schließlich nicht. So ist die Notaufnahme dann voll mit Fällen, die dort eigentlich gar nicht hingehören. Die übermäßige Nutzung der Notaufnahme für nicht dringende Fälle erhöht die Wartezeiten für alle und belastet das Krankenhauspersonal zusätzlich. Außerdem entstehen dadurch immense Kosten für das Gesundheitssystem, da die Versorgung in der Notaufnahme um ein Vielfaches teurer ist als beispielsweise bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten. Das gefährdet die gesamte Versorgungsstruktur, nicht nur auf dem Land.
Ist der Fachkräftemangel auf dem Land denn anders spürbar als in der Stadt?
Absolut. Der Fachkräftemangel auf dem Land unterscheidet sich deutlich von dem in der Stadt. Wenn in der Stadt eine Praxis schließt, gibt es dort in der Regel eine viel höhere Dichte an medizinischen Einrichtungen. Das macht es für Patienten einfacher, eine alternative Versorgung zu finden. In der Stadt ist der Fachkräftemangel für Patienten daher noch nicht ganz so offensichtlich. Viele Stadtbewohner haben zudem keinen festen Hausarzt mehr und suchen einfach den nächstverfügbaren Arzt mit freien Terminen auf, wenn sie Beschwerden haben. Bei Personen mit chronischen Erkrankungen, die regelmäßig zum Arzt müssen, sieht das natürlich etwas anders aus, aber grundsätzlich gibt es in Ballungsräumen schon eher die Tendenz zum „Arzt-Hopping”. Patienten auf dem Land haben dieses Privileg nicht. Gerade in ländlichen Gebieten ist es daher so wichtig, niedrigschwellige Angebote und pragmatische Lösungen für die medizinische Versorgung zu finden. Projekte wie DIHVA können hierbei helfen.
Das ist ein gutes Stichwort! Kannst du uns kurz erklären, was es mit dem Projekt auf sich hat? Und warum eigentlich „DIHVA”?
Um zunächst mal alle Fragezeichen zur Namensgebung aus dem Weg zu räumen: DIHVA steht für „Digitale Hausärztliche Versorgungsassistenten”. Das gemeinsame Innovationsprojekt haben wir zusammen mit Stefan Spieren, Facharzt für Allgemeinmedizin und Allgemeinchirurgie in der Arztpraxis Spieren & Kollegen, und mit technologischer Software-Unterstützung von samedi ins Leben gerufen. Das Ziel: dem Hausarztsterben und der Unterversorgung auf dem Land entgegenzuwirken, indem wir Möglichkeiten entwickeln, um Ärzte und medizinisches Personal zu unterstützen. Das gelingt uns mithilfe der Digitalisierung – und mit einem ganz neuen Beruf: dem Digitalen Hausärztlichen Versorgungsassistenten bzw. der Digitalen Hausärztlichen Versorgungsassistentin oder kurz: DIHVA.
Die DIHVAs durchlaufen eine 3,5-monatige „Ausbildung“ und sind danach direkt einsatzfähig. Ausgestattet mit modernen und intelligenten Untersuchungsgeräten können sie mobil, flexibel und von überall aus Patienten untersuchen und die Befunde digital an die behandelnden Ärzte weiterleiten. Mit ihrer Ausrüstung können Sie bereits jetzt schon über 50 diagnostische Werte am Patienten, ortsunabhängig von einem Arzt, erheben.
Wie erhalten Patienten einen Termin bei einem bzw. einer DIHVA?
Die Patienten buchen online einen Termin und erhalten eine Terminbestätigung mit einem Link. Hinter diesem Link befindet sich eine erste Abfrage der Beschwerden, ähnlich einem Symptom-Checker, der Informationen zur Person und zu den vorliegenden Erkrankungen abfragt. Im Hintergrund werden dabei bereits einige vorläufige Arbeitsdiagnosen von einer Künstlichen Intelligenz (KI) erstellt. Die KI hinter der Software ist ein sogenanntes Large Language Model, das medizinische Leitlinien berücksichtigt und auf deren Grundlage Vorabdiagnosen erstellt.
Wie geht es dann weiter? Wie läuft die Untersuchung durch den oder die DIHVA ab?
Am Tag des vereinbarten Termins geht der Patient zu einem/einer DIHVA vor Ort in seiner Nähe. Die/der DIHVA hat dann bereits die Ergebnisse aus dem Triage-Tool mit den drei bis fünf Arbeitsdiagnosen vorliegen. Anhand dieser wird eine To-do-Liste für die DIHVAs erstellt, die angibt, welche diagnostischen Werte vom Patienten benötigt werden. Dies gewährleistet, dass nur relevante Tests durchgeführt werden. Die DIHVAs führen dann die benötigten Untersuchungen durch, um bestimmte Diagnosen zu bestätigen oder auszuschließen. Typische Aufgaben sind da beispielsweise das Abhorchen der Lunge und des Herzens, Messen des Blutdrucks, Abnahme von Blut- und Hautproben oder auch eine Untersuchung des Rachens oder der Ohren. Die DIHVAs verfügen über alle benötigten Geräte, wie ein digitales Stethoskop oder einen digitalen Mund-Rachenspatel, sowie ein Set zum Messen der Lungenfunktion bis hin zur mobilen Zentrifuge. Sie sind mit der Bedienung dieser Geräte bestens vertraut und können die Untersuchungen jederzeit fachgerecht durchführen.
Was passiert nach der Untersuchung?
Direkt nach der Untersuchung wird ein Folgetermin für eine Videosprechstunde mit dem Arzt vereinbart. Die durchgeführten diagnostischen Maßnahmen der DIHVAs dienen praktisch als Vorbereitung für das Gespräch mit dem Arzt. Normalerweise kommt ein Patient ja in die Videosprechstunde und muss ggf. zur körperlichen Untersuchung hinterher nochmal in der Praxis erscheinen. Das ist hier anders: Alle Informationen, die vorher in der Videosprechstunde gefehlt haben, sind nun bereits vorhanden, da sie vorab durch den/die DIHVA erfasst wurden. Somit liegen dem Arzt die erforderlichen diagnostischen Werte in der Videosprechstunde bereits vor. Diese Ergebnisse helfen dann bei der endgültigen Diagnosestellung, Therapieeinleitung oder der Verschreibung von Medikamenten. Wir haben die Reihenfolge der Wertschöpfungskette also einfach umgedreht. Ein zweiter physischer Besuch in der Praxis ist dann oft nicht mehr notwendig und alle – sowohl Arzt als auch Patient – sparen Zeit und Aufwand.
Sollen so die MFA in den Praxen langfristig ersetzt werden?
Uns ist wichtig zu betonen, dass DIHVAs die MFA und andere medizinische Berufe natürlich nicht ersetzen, sondern ergänzen und unterstützen sollen. Die DIHVA-Ausbildung steht allen offen, die 18 Jahre alt sind und keine Vorstrafen haben. Ein medizinischer Hintergrund ist nicht erforderlich. Natürlich ist es ein Plus, wenn man z. B. einen Lehrgang im Rettungsdienst absolviert hat, eine Voraussetzung ist es jedoch nicht. Die Position steht allen offen, die Interesse an einer Tätigkeit im medizinischen Bereich und an der Arbeit mit anderen Menschen haben. Auch zum Beispiel jungen Menschen, die gerne Medizin studieren wollen, aber möglicherweise durch einen hohen NC davon abgehalten werden und die Wartezeit auf einen Studienplatz durch eine sinnvolle Tätigkeit im medizinischen Bereich überbrücken wollen.
Ihr habt euch ein „Fast-Track”-Ausbildungskonzept überlegt, bei dem die DIHVA-Qualifikationen innerhalb von nur dreieinhalb Monaten erworben werden. Was ist das Besondere an diesem Konzept?
Einerseits die Schnelligkeit und die Einfachheit. Wir möchten Personen innerhalb kurzer Zeit für den Einsatz am Patienten qualifizieren. Um das möglich zu machen, haben wir Geräte ausgewählt, die bereits selbst so viel wie möglich unterstützen. Wir setzen also auf Untersuchungsinstrumente, die „mitdenken”. In dem Gerät zur Rachenuntersuchung ist beispielsweise eine KI verbaut, die erkennt, ob der Bildausschnitt ausreichend ist, um eine aussagekräftige Diagnose zu stellen. Erst wenn das der Fall ist, wird das Bild aufgezeichnet, sodass die DIHVAs es an den Arzt übermitteln können. Die Blutdruckmanschette erkennt wiederum, ob sie korrekt angelegt wurde. In der Ausbildung werden die angehenden DIHVAs dazu befähigt, die Geräte optimal zu bedienen. So können Fehlerquellen von vornherein minimiert werden.
Es geht also vor allem um die korrekte Anwendung der Mess- und Untersuchungsgeräte?
Nicht nur. Wir vermitteln den Auszubildenden z. B. auch, wie man eine strukturierte Patientenuntersuchung durchführt, wie man mit den Patienten spricht und wie man in Notfällen reagiert. Wir bereiten auch darauf vor, wie man mit Personen umgeht, die mit psychosomatischen Beschwerden kommen – und wie man diese erkennt. Mit der DIHVA-Ausbildung geben wir den Azubis eine Mischung aus technischem, administrativem und zwischenmenschlichem Know-how mit auf den Weg. Wichtig ist auch, zu betonen, dass alles, was ein/eine DIHVA tut, immer im Auftrag und in Delegation eines Arztes erfolgt und man nicht „auf eigene Faust” agiert. Die endgültige Diagnosestellung obliegt dem Arzt – daher ist die Videosprechstunde auch immer der nächste Schritt nach der ersten Voruntersuchung durch die DIHVAs.
Wo können DIHVAs überall eingesetzt werden?
Es gibt viele verschiedene Einsatzszenarien für DIHVAs, zum Beispiel in der ambulanten Pflege, der Altenpflege oder direkt in Arztpraxen. Sie können auch in Apotheken in einem separaten Raum eingesetzt werden. Lange Zeit war die Bundesregierung zwar strikt gegen einen solchen Service, mittlerweile gibt es sogar Empfehlungen, mehr Telemedizin in Apotheken anzubieten. Darüber hinaus können DIHVAs Untersuchungen in Gemeindezentren oder Rathäusern durchführen. In der Praxis könnte das so aussehen: Ein oder zwei DIHVAs teilen sich auf drei unterschiedliche Ärzte auf und arbeiten beispielsweise im Rathaus eines Dorfes – so wird ein Multiplikatoreffekt ermöglicht. Draußen sind die Schilder von allen drei Ärzten angebracht und jeder Patient weiß, zu welchem Arzt er gehen muss. Die DIHVAs arbeiten je nach Bedarf im Auftrag des jeweiligen Arztes, wobei die Berufshaftpflicht des betreffenden Arztes greift.
Welche Rolle spielen die Kommunen bei der Umsetzung?
Gemeinden haben einerseits einen Versorgungsauftrag für ihre Einwohner und daher ein eigenes Interesse daran, medizinische Angebote vor Ort anzubieten. Solche Services sollen mit dazu beitragen, Abwanderung zu verhindern. Mit DIHVA besteht die Möglichkeit, niedrigschwellige Angebote auf unkomplizierte Weise zu etablieren. Ganz pragmatisch betrachtet, stellen die Kommunen außerdem die Räumlichkeiten zur Verfügung, in denen Patienten die DIHVAs aufsuchen können. Eine enge Zusammenarbeit mit den Gemeinden ist also entscheidend für den Erfolg und die Ausweitung eines solchen Angebots.
Würdest du sagen, dass die hybride Versorgung – also der Mix aus digitalen und analogen Angeboten vor Ort – der Schlüssel zu einer besseren Gesundheitsversorgung ist?
Ja, auf jeden Fall. Die Effekte von DIHVA wären sogar schon nach nur kurzer Zeit zu spüren. Denken wir mal an die sogenannten „Gesundheitskioske”: Die Idee hinter diesen Kiosken ist, Menschen eine erste Anlaufstelle zu bieten, bei der sie sich niedrigschwellig Informationen zu Gesundheitsfragen beschaffen können. Man sucht die Kioske also nicht in erster Linie auf, weil man Beschwerden hat, sondern will sich erstmal nur informieren. Einen/eine DIHVA in einem solchen Gesundheitskiosk zu platzieren, wäre der nächste logische Schritt. Die Kioske könnten als vertrauensvolle Anlaufstelle etabliert werden und das Patientenaufkommen in Praxen und Notdiensten eindämmen – sowohl auf dem Land als auch in der Stadt. Denn, sofern sie mit der richtigen Technik ausgestattet sind, können DIHVAs flächendeckend überall ohne Limitierung eingesetzt werden.
Was sind die Voraussetzungen dafür, dass das auch passiert und DIHVAs sich als Anlaufstelle für Patienten etablieren?
Die Erkenntnis muss sich durchsetzen, dass wir nur mit solchen Modellen wie dem DIHVA-Projekt Erfolg haben werden. Der Kostendruck steigt, der Fachkräftemangel wird immer größer, während der Anspruch an medizinische Leistungen wächst. Um der Unterversorgung beizukommen, können wir kaum innerhalb der nächsten fünf Jahre 20.000 weitere Ärzte ausbilden, die sich alle auf dem Land niederlassen wollen. Das wird nicht der Schlüssel zum Erfolg sein. Wir müssen die Struktur unserer Versorgung grundsätzlich neu denken – und das tun wir mit DIHVA.
Wie geht es mit dem DIHVA-Projekt jetzt weiter? Welche nächsten Schritte sind geplant?
Unser nächstes Ziel ist es, die offizielle Zertifizierung für den Ausbildungslehrgang zu erhalten. Hier haben wir bereits einen Bildungspartner gefunden, mit dem wir zusammenarbeiten und der über viel Erfahrung mit zertifizierten Fortbildungen im Bereich Medizin verfügt. Außerdem möchten wir unsere Studie abschließen, die wir gemeinsam mit der Universität Siegen, unserem wissenschaftlichen Partner, durchführen. Die Ergebnisse müssen aufbereitet werden, damit wir die Daten und Evidenzen z. B. vor der Ärztekammer präsentieren können. Anschließend möchten wir das DIHVA-Projekt nach und nach in so viele Bereiche wie möglich bringen.
Welche DIHVA-Szenarien kannst du dir für die Zukunft vorstellen?
Wir denken DIHVA schon jetzt weiter. Zum Beispiel sprechen wir gerade sehr intensiv über die vorhin bereits erwähnten Notaufnahmen. Für all diejenigen, die in die Notaufnahme kommen, aber eigentlich nicht dorthin gehören, könnten wir eine Alternative anbieten: Anstatt stundenlang zu warten, könnten sie sofort von einer/einem DIHVA vor Ort untersucht werden. Auch auf Schiffen, in der Seenotrettung, in Kriegs- und Krisengebieten und in der humanitären Hilfe im Ausland können DIHVAs in Kombination mit ihrem Rucksack wertvolle Arbeit leisten. Wo auch immer es eine Form von Funk-, Satelliten- oder Internetempfang gibt, besteht Potenzial für unser Projekt. Eben überall dort, wo ein Arzt benötigt wird, aber gerade nicht verfügbar ist.
Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg mit dem DIHVA-Projekt!
Das Interview wurde am 06.02.2024 geführt.