Das deutsche Gesundheitswesen spürt zunehmenden Veränderungsdruck – sei es aufgrund der Förderung der Krankenhausdigitalisierung durch das Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG), der anstehenden Krankenhausreform oder der Erwartungshaltung von Patienten, Gesundheitsfragen ebenso schnell und sicher zu klären wie beim Online-Banking. Fakt ist: Die Zeit ist reif für eine Transformation!
Der digitale Wandel berührt alle Akteure der Medizin und konfrontiert diese gleichermaßen mit Chancen wie auch mit Herausforderungen. Daher ist es genau jetzt von großer Bedeutung, Innovationen nachhaltig zu implementieren und zugleich Akzeptanz für die neuen Technologien sicherzustellen. Change Management setzt zweifellos das Fundament dafür.
Ein Blick nach Finnland macht deutlich, dass E-Health in Deutschland im Vergleich noch deutliches Aufholpotenzial aufweist: In Finnland wird bereits seit über 20 Jahren mit der ePA (elektronischen Patientenakte) und seit 15 Jahren mit dem E-Rezept gearbeitet. Zudem sind dort über 200 Digital Patient Pathways, die als digitale Versorgungspfade ineffiziente und fragmentierte Prozesse in straffe, patientenzentrierte und kosteneffiziente Behandlungsabläufe verwandeln, zentralisiert im Einsatz.
Woran liegt es, dass das deutsche Gesundheitssystem solch innovative Entwicklungen bislang nicht realisiert hat? Welche Rolle spielt Change Management in der digitalen Transformation und wie kann dieses erfolgreich umgesetzt werden? Mit diesen Fragen befassten sich Dr. med. Peter Gocke, Chief Digital Officer und Leiter der Stabsstelle Digitale Transformation in der Charité Berlin und Prof. Dr. Alexander Alscher, E-Health-Pionier, Gründer und CEO von samedi, der digitalen Lösung zur allumfassenden Patientenkoordination, im Gespräch mit der samedi Redaktion.
Das KHZG konfrontiert das deutsche Gesundheitswesen mit zahlreichen Veränderungen. Welchen Stellenwert nimmt das Change Management dabei für Krankenhäuser ein?
Dr. med. Peter Gocke: Zunächst ist es wichtig, zwischen den Begriffen Digitalisierung und digitaler Transformation zu unterscheiden. Ersteres bedeutet nur den Wechsel eines analogen Werkzeugs hin zu einem digitalen. Letzteres erfordert eben Change Management, da gewohnte, erlernte Prozesse und Arbeitsweisen geändert und digital transformiert werden. Häufig ist es sogar so, dass der Change Management-Prozess deutlich mehr Raum, Zeit und Ressourcen in Anspruch nimmt als die Bereitstellung der reinen Technologie. Einen Algorithmus einzuführen, der Laborwerte auswertet, ist vergleichsweise simpel und es dauert lediglich ein paar Wochen, bis dieser geprüft, eingerichtet und dokumentiert ist. Die Anpassung der damit verbundenen Prozesse und das Change Management nehmen aber deutlich mehr Zeit in Anspruch – hier sprechen wir eher von mehreren Monaten.
Die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens verläuft im internationalen Vergleich nur zögerlich. Was sind mögliche Gründe dafür?
Dr. med. Peter Gocke: Die mangelnde Berücksichtigung von Change Management ist durchaus eine der Ursachen. Mit der Einführung neuer Technologien werden Prozesse im Krankenhaus verändert und das birgt zwei Herausforderungen: Zum einen haben wir uns an einigen Stellen für den Einsatz von Technologie entschieden, wo keine Kenntnis der Prozess-Landschaft vorhanden war, in der diese Technologie zum Einsatz kommt. Zum anderen gab es niemanden, der im Nachhinein dafür gesorgt hätte, die Lücke zwischen diesen beiden Anforderungen zu schließen. Deswegen, glaube ich, war die digitale Transformation im deutschen Gesundheitswesen in der Vergangenheit sehr mühsam.
Wie geht die Charité mit diesen Herausforderungen für einen erfolgreichen digitalen Wandel um?
Dr. med. Peter Gocke: Als eine der größten Unikliniken Europas verzeichnet die Charité eine komplexe Organisationsstruktur, weswegen prozessuale Veränderungen mit großen Herausforderungen einhergehen. Der Vorstand der Charité trägt dem auf vielen Ebenen Rechnung: angefangen mit der partizipativen Erarbeitung einer gemeinsamen Strategie, über die Etablierung neuer Managementsysteme wie OKR bis hin zur konkreten Förderung der Zusammenarbeit. Beispiel für letzteres ist die Metastruktur der DTC (steht für „Digitale Transformation Charité“): dort wirken Personen aus den Bereichen Verwaltung, Krankenversorgung, Forschung, Lehre sowie aus dem Geschäftsbereich IT mit, um sicherzustellen, dass sich wirklich alle Bestandteile der Organisation zur digitalen Transformation regelmäßig austauschen. Das Ziel ist es an der Stelle nicht unbedingt, die gleichen technischen Strukturen für alles zu finden, sondern eher, eine lernende Organisation zu etablieren und gemeinsame Ziele zu verfolgen. Uns war es wichtig, eine zentrale Struktur zu schaffen, damit sich die jeweiligen Bereiche über ihre individuellen Erfahrungen austauschen können, um kontinuierlich gemeinsam und voneinander zu lernen.
Das klingt stark nach Selbstorganisation, ist das der Weg zu einem digitalisierten Krankenhaus aus Organisationsperspektive?
Prof. Dr. Alexander Alscher: Ein Zielbild der Organisationstheorie ist letztendlich die funktionierende Selbstorganisation. Das bedeutet, ein System zu etablieren, das aufgrund der Strukturen und des impliziten Wissens sich selber steuert, ohne zusätzlichen Management-Overhead zu haben. Ein klassisches Beispiel der Selbstorganisation ist die Erfolgsstory der Ameisen-Kolonien, die sich ohne „Management“ mit einem einfachen und zielorientierten Verhalten überall niederlassen und behaupten können. Das System kann auch eine Orientierung für Krankenhäuser in der digitalen Transformation zunutze machen. D. h. Prozesse aufsetzen, die durch die Digitalisierung weitestgehend selber gesteuert werden.
Dr. med. Peter Gocke: Die Voraussetzung für Selbstorganisation ist natürlich, dass sich die Mitarbeiter damit entsprechend identifizieren, verantwortlich fühlen und auch den Überblick haben. Bis dahin ist es noch eine sehr lange Reise, auf der wir hoffentlich mit flacheren Hierarchien auskommen werden. Wichtig: Weniger Hierarchie bedeutet nicht weniger Leadership („It takes what it takes“)!
Prof. Dr. Alexander Alscher: In der Realität werden wir auch nicht ganz ohne Hierarchien auskommen. Sie setzen immerhin einen Ordnungsrahmen. Hierarchie als Selbstzweck wird jedoch nicht mehr funktionieren. Wenn man einen Blick auf die rasanten Entwicklungen des letzten Jahrhunderts wirft, könnte sich, insbesondere mit der exponentiellen Entfaltung von Künstlicher Intelligenz, vieles in Richtung Selbstorganisation entwickeln.
Was bedeutet ein gewisser Anteil von Selbstorganisation für die Unternehmenskultur und welche Rolle spielt diese im Change Management-Prozess?
Dr. med. Peter Gocke: Die Unternehmenskultur ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor im Change Management. Bei der Digitalisierung und digitalen Transformation von Unternehmen erweist sich der Vorstand als Motor dieses Prozesses, die IT wiederum als das Getriebe. Denn es ist eben die durch den Vorstand etablierte und vorgelebte Unternehmenskultur, die schlussendlich ausschlaggebend dafür ist, wie erfolgreich eine digitale Transformation abläuft. Führungskräfte können (und müssen!) Treiber der digitalen Transformation sein, umgesetzt wird sie aber von den Mitarbeitenden mit ihrer Expertise und Erfahrung auf allen Hierarchieebenen. Allerdings sind die Ressourcen und das Personal, das wir unbedingt für die technische Umsetzung benötigen, leider sehr ausgelastet.
Prof. Dr. Alexander Alscher: Mit dem Kulturwandel hat Dr. Gocke einen sehr wichtigen Punkt angesprochen. Es ist immer vorteilhaft, wenn das Personal in der Komplexität der digitalen Transformation und angesichts der Bandbreite an Veränderungen begleitet, beraten und unterstützt wird. So weit wie es die Kapazitäten eben zulassen. Meines Erachtens ist eine Stabsstelle für Digitalisierung, so wie in der Charité, für jede Klinik äußerst sinnvoll.
Ein viel diskutiertes Thema bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens ist Datenschutz. Wie lässt sich beides vereinbaren?
Prof. Dr. Alexander Alscher: Mit samedis Lösungen zur hochsicheren Patientenkoordination verfolgen wir natürlich das Ziel, Kliniken auf dieser Reise zu unterstützen. Wir möchten das Bewusstsein vermitteln, dass insbesondere in Hinblick auf ärztliche Schweigepflicht, Datenschutz und Verschlüsselung nicht jede handelsübliche Software benutzt werden kann. Denn gerade, was den Datenschutz im Gesundheitswesen anbelangt, sollten natürlich höchste Anforderungen gestellt werden.
Dr. med. Peter Gocke: Wenn Sie mich fragen, hätte ich das gleiche Sicherheits-Level eigentlich gerne überall. Egal, ob es hierbei um die digitale Transformation einer speziellen Branche geht oder um den privaten Bereich. Wir erleben täglich, wie Daten missbräuchlich gegen Menschen eingesetzt werden, beispielsweise auf vielen sozialen Plattformen und Ähnlichem. Daher müssen die Akteure des Gesundheitswesens unbedingt entsprechende Maßnahmen einleiten, um die Datensicherheit der Patienten gewährleisten zu können.
Prof. Dr. Alexander Alscher: Sie haben recht und auch die Aufklärung darüber ist hier ein großes Stichwort. Der Patient muss stets selbstbestimmt über seine Daten entscheiden können. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass das nötige Bewusstsein dafür geschaffen wurde.
Was bedeuten Digitalisierung und Change Management in der IT für eine bessere Medizin? Warum ist das eine der wichtigsten Stellschrauben für die Behandlungsqualität?
Dr. med. Peter Gocke: Wir erleben mit der Digitalisierung eine Demokratisierung der Medizin: Sie wird einfacher, leichter und flächendeckend verfügbar. Angesichts Fachkräftemangels und Ressourcenknappheit brauchen wir die digitale Transformation, um unsere Kernkompetenzen, Patientenversorgung und medizinische Qualität, überhaupt noch aufrechterhalten zu können. Anders kann die Nachfrage der Patienten einfach nicht ausreichend gedeckt werden. Außerdem streben wir ja auch einen grundlegenden Wandel an: Wir wollen gar nicht mehr darauf warten, bis Menschen krank werden. Wir möchten Krankheitsanzeichen so früh wie nur möglich erkennen können. Und das gelingt auch nur, wenn ich das richtig Werkzeug aus der Digitalisierung nutze. Die Medizin ist eine sehr datengetriebene Wissenschaft und Profession. Daher müssen wir uns digitale Hilfsmittel zunutze machen, um Daten zu analysieren und Zusammenhänge frühzeitig zu erkennen. Nur dann können wir schneller agieren. Um die technologischen Voraussetzungen dafür nachhaltig zu etablieren, müssen die Grundlagen sicher und sauber verankert werden – das geht nur mit dem entsprechenden Change Management an der Basis. Auch im Gesundheitswesen muss der digitale Erstkontakt das neue Normal werden.
Prof. Dr. Alexander Alscher: Mit solchen zukunftsorientierten Beispielen lässt sich die Notwendigkeit der Digitalisierung begründen. Denn es geht im Endeffekt um das Ergebnis und die Qualität der Gesundheitsversorgung, die durch digitale Prozesse maßgeblich verbessert werden kann. Das Ziel ist es, einen schnelleren, zielgerichteten Zugang zur Medizin zu schaffen. Die medizinische Versorgung kann sich mit der Digitalisierung umdrehen und muss nicht erst passiv warten, bis Patienten sich melden. Sondern „der digitale Arzt“ bzw. das Patientenportal in der Hosentasche signalisiert aktiv, wenn ein Problem bzw. Versorgungsbedarf erkannt wird. Das wäre ein zukünftig anzustrebender Paradigmenwechsel.
Vielen Dank, Herr Dr. med. Gocke und Herr Prof. Dr. Alscher, für das Teilen Ihrer beider Perspektiven.
Sie möchten mehr zum Thema Change Management im Krankenhaus lesen? In „Die kritischen Erfolgsfaktoren der digitalen Transformation im Krankenhaus – Band 2“, initiiert von der Entscheiderfabrik unter der Leitung von Dr. Pierre-Michael Meier, erfahren Sie, welche Erfolgsfaktoren ausschlaggebend für die digitale Transformation im Krankenhaus sind.